Mittwoch, 17. Mai 2006
 
In die hohle Hand geschissen und so
Der erste Eindruck war gar nicht gut. Da saß er vor uns, Herr W: alt, fett häßlich, optisch eine Kreuzung aus Dr. Evil und den Markenfetischisten meiner vorigen Klasse, immer ein kleines Krokodil auf dem Strickpullover, die Brille von Zeiss, die dünn werdenden Haare auf 3 Millimeter gestutz.
Und er erzählte uns das Schauermärchen unseres Lebens, wie hart er uns in den nächsten dreieinhalb Jahren rannehmen würde, was wir an Stoff schaffen müßten, wie er mit 'Versagern' umspringen würde, er habe die Kontakte dafür. 90 Minuten lang Drohungen, aufgelockert nur hin und wieder durch kleine Anekdötchen, wie gut er sei. Die beste Klasse, den besten Schnitt etc. - Er überrannte uns wie eine Dampfwalze.
Nach 90 Minuten standen wir auf dem Schulhof und berieten uns, was das war. Wir, das waren 10 Auszubildende eines größeren Telekommunikationskonzerns plus eine Handvoll 'Leidensgenossen' aus kleinen Handwerksbetrieben. Wir hatte gerade erst 'mit der Lehre' begonnen, es war unser erstes Erscheinen in der Berufsschule. Auch wenn wir vorgewarnt worden waren - damit hatten wir nicht gerechnet. Eigentlich war uns klar: Der Mann hatte diesen Auftritt, seine Wirkung geplant, und was immer jetzt kommen würde, es konnte nur besser werden.
Wurde es auch. Der Rest des Tages war normaler Unterricht, wenn wir uns auch, aus reiner Vorsicht, etwas schüchterner verhielten.
Ein paar Wochen später hat er mich dann direkt attackiert. Ich sei nichts für den Beruf. Meine Schrift (die damals wirklich grausig war), mein Arbeitsweise, vielleicht auch mein Verhalten sagtem ihm nicht zu und er empfahl mir, mir einen anderen Job zu suchen - was ich natürlich nicht tat.
Stattdessen lernte ich, eigentlich immer ein stiller Vogel, aus mir herauszugehen. Es verging keine Stunde, in der er nicht eine seine Anekdoten brachte - die ich stilsicher kommentierte. Und ich konnte es mir leisten, denn auch wenn er nicht untertrieben hatte mit der Masse an Stoff, konnte ich meine Fähigkeiten, mein Gedächtnis, ausspielen und habe den Stoff gut gemeistert - was ich auch dazu nutzte, meinen Kollegen zu helfen - seltsamerweise wurde ich selten wegen 'Schwätzens' ermahnt.

Wie gehabt, er hatte nicht übertrieben damit, daß er uns eine Menge Stoff beibringen würde. Als er uns nach drei Monaten die erste Arbeit hatte schreiben lassen - bei der - sicher von ihm nicht unbeabsichtigt - zwei Drittel unterhalb von ausreichend lagen - hielt er nochmal eine 30- minütige Rede, erst danach besserte sich sein Verhältnis zu uns wirklich. Und das was wir bis zum Ende in den 42 Monaten an Elektronik durchnahmen hätte mit jedem Hochschulstudium mitgehalten, und ich kann mir vorstellen wie P. (der im Anschluß wirklich Elektrotechnik strudierte) in den ersten 6 Semestern warscheinlich öfter seinen Dozenten korrigieren konnte als daß er sich Notizen zu machen brauchte. Eletronische Bauelemente, die andere Klassen nur als 'Black Box' kennenlernten, durften wir von der Dotierung an kennenlernen, und Versuche, die andere Lehrer wegen zu vieler defekter Bauelemente längst nicht mehr durchführten hat er natürlich nicht an uns vorbeiziehenlassen - wenn auch immer von seinem strengen Blick bewacht.
Wir lernten sogar seinen Humor schätzen, seine Redewendungen wie 'In die hohle Hand geschissen' oder 'Das ist doch Jacke wie Hose', achja, auch 'gehimmelt' habe ich dort gelernt, und hörten gern seine Anekdoten zu, da er es verstand, sie immer dann einzuwerfen, wenn das Hirn grade am rotieren war.
Und am Ende der anfangs unendlich weit weg erscheinenden dreieinhalb Jahre gabs dann sogar noch eine sehr interessante Klassenfahrt*.

Übringens hat er keinen von uns zum Verlierer erklären können (wenn er es denn je gewollt hat). Wir haben gut zusammengehalten und den Abschluß alle geschafft.

*Setze auf die Merkliste: Klassenfahrt in ein Hotelschiff, auf dem schonmal ein Porno gedreht wurde
 
Von: ericpp um 00:42hstorieskommentieren

 
eine wunderbare wendung. manchmal sind es gerade die menschen, die man später am meisten schätzt.
 
 
erinnert mich an meinen ndl-einführungskurs. der prof guckte am ersten tag auf die teilnehmerliste: "sooo... 42. nunja. in zwei wochen haben wir den kurs auf eine arbeitsfähige größe von maximal 20 leuten reduziert, hoffe ich." mit ausdauerndem zynismus und kopien-bombardements (oft an die 100 seiten/woche, verbunden mit aufmunternden worten: "lesen! für alle! grundwissen! wenn ich sie frage und sie wissen das nicht, sind sie hier raus!")wäre ihm das fast gelungen. knapp 30 leute machten am ende die prüfung. diejenigen, die durchgehalten hatten, haben aber wirklich auch was gelernt.
 
 
Japp.

Dazu fiel es genau in die Phase, in der ich mich vom Elternhaus abgekoppelt hab und langsam erwachsen wurde. Dann prägt das natürlich umso mehr.
 
 
mein einführungskurs fand einen monat nach meinem einzug in meine erste eigene wohnung statt. es war mein erster einführungskurs überhaupt und ich war ohnehin drauf und dran, das studium zu schmeißen. jetzt ist es beinahe das schönste element in meinem leben - wenn nur das examen nicht wäre... *sigh*
 
 
Hört sich nach eine ähnlichen Situation an. Ich hatte zu der Zeit gerade ein Wohnheimzimmer bezogen - mußte sein, weil die Ausbildungsstätte war in der Stadt - aber nur dadurch bin ich so selbstständig geworden wie es heute bin - und krebse nicht noch in der Nähe des elterlichen Nestes rum.
 
 
Also ich damals grad so mit Dreier-Zeugnis von der Realschule auf ein als ziemlich hart geltendes Wirtschafts-Gymnasium gekommen bin, hatten wir auch so einen Klassenlehrer, dem schon von vornherein klar war, daß mindestens die Hälfte von uns nicht "überleben" würden. Und er sollte mehr als recht behalten - grad mal sieben Leute der vormals locker 25, die da am ersten Tag zusammen in der Klasse sassen, schafften es wirklich in den normalen drei Jahren, die Schule hinter sich zu bringen - und lerntechnisch kann ich immerhin sagen, daß ich es doch sogar zu einem 2.0 Schnitt im Abschluss gebracht habe... War auch ne echt gute Zeit irgendwie - gibt viel zu erzählen...

*Notizmach* Abizeitung raussuchen, und ein paar Anekdoten für's Bloggen heut abend einplanen...
 
 
Ich denke mal, solche Lehrer sind recht häufig zu finden.

Hach, Herr Gorillaschnitzel, was haben Sie angerichtet? Jetzt fängt jeder an, seine alten Schulgeschichten herauszusuchen.
 
 
Feine Geschichte und das Beste ist, Du bist stärker rausgekommen als reingegangen. Sieg auf ganzer Linie, dafür sollte man dem guten Mann dankbar sein, oder?
 
 
jupp.